Interview mit Martina Bircher

Würde die Aargauer Regierungsratskandidatin, Nationalrätin Martina Bircher (SVP) am 20. Oktober in die Bildungsdirektion gewählt und den scheidenden Alex Hürzeler ersetzen, käme es zu einer Kurskorrektur bei der Aargauer Volksschule. Die 40-jährige Nationalrätin präsentiert einen 10-Punkte-Plan (siehe PDF), der bei den grössten derzeitigen Problemzonen der Volksschule ansetzt und grösstenteils den Forderungen des Lehrernetzwerks Schweiz entspricht.

Wir haben mit Martina Bircher gesprochen.

Martina Bircher, warum sind Sie zum Schluss gekommen, dass die Pädagogischen Hochschulen (PH) praxisnaher ausbilden müssen?

Martina Bircher: Von Lehrern, die frisch von der Ausbildung kommen, habe ich erfahren, dass ihnen die grundlegendsten Werkzeuge nicht mit auf dem Weg gegeben worden sind: die Kompetenz, vor eine Klasse zu stehen, Elterngespräche führen, einen Elternabend organisieren und so weiter. Das Ausbildungsprogramm der PH zeigt, dass die angehenden Lehrer viel zu theoretisch ausgebildet werden. Das sorgt im Berufsalltag für Verunsicherung und Überforderung. Es ist einer der Gründe, dass viele dem Lehrerberuf den Rücken kehren. Ich finde das verheerend.

Wie werden Sie die PH dazu bewegen, die Ausbildung praxisnah zu gestalten?
Die PH an der Fachhochschule Nordwestschweiz wird von den Kantonen Baselland, Aargau und Solothurn gemeinsam getragen. Es geht darum, im Fachhochschulrat ein gemeinsames Verständnis einer praxisnahen Ausbildung zu entwickeln. Viel direkter kann man Einfluss auf die Weiterbildung nehmen, weil sie direkt vom Kanton finanziert wird. Hier sage ich ganz einfach: Wer zahlt, befiehlt.

Die Bürokratie, angetrieben von der Verwaltung, lähmt den Schulbetrieb tatsächlich. Was muss sich konkret ändern?
Im Schulbereich werden unzählige Listen geführt, es besteht eine hohe Dokumentationspflicht. Hier würde ich eine Entschlackung durchführen. Ein Formular gibt es nur noch, wenn ein direkter Nutzen ausgewiesen ist. Ist dieser gering, braucht es das Formular nicht. Die Bürokratie und der Koordinationsaufwand sind auch deshalb angestiegen, weil immer mehr Lehrer gemeinsam für eine Klasse verantwortlich zeichnen. Die Position des Klassenlehrers muss also gestärkt werden. Die integrative Schule, die grosse Ressourcen bindet, halte ich für gescheitert. Meine Kleine geht in einen Kindergarten mit 16 weiteren Gspänli. Dafür werden inzwischen fünf Pädagogen eingestellt. Sicher nicht alle zu 100 Prozent. Das führt zu einem hohen Koordinations- und Kommunikationsaufwand.

Die Gemeinden im Kanton Aargau sind frei, wie sie die Schule organisieren wollen. Warum ist die integrative Schule dennoch so populär?
Das stimmt, wir kennen kein Verbot von separativen Schulen. Die Gemeinden können sogar im Verbund Klein- und Förderklassen organisieren. Ich glaube, dass die Diskussion um die integrative Schule ideologisch geprägt war. Schulleiter und die politischen Schulpflegen wollten als modern gelten und bestimmten die Marschroute. Wer nicht mitmachen wollte, getraute sich nicht aus der Deckung zu kommen. Der Kanton kann eine führende Rolle übernehmen und einer schambehafteten Diskussion entgegenwirken. Jede Schule in den Gemeinden soll hinterfragen dürfen, ob die integrative Schule sinnvoll ist oder nicht

Mit der steigenden Migration sind mehr fremdsprachige Schüler in die Klassen gekommen, was zusätzliche Aufgaben für die Lehrer bedeutet. Was ist das beste Rezept zur Entlastung der Schule?
Es gibt zwei Ebenen, auf denen das Problem angegangen werden kann. Fremdsprachigen Kindern und noch nicht schulpflichtigen Kindern ist eine Frühförderung in Deutsch anzubieten oder sogar einzufordern. Das haben wir in meinem Wohnort Aarburg eingeführt. In diesem Zusammenhang sollten dringend Väter-Mütter-Beratungen und Kinderärzte an einem Strick ziehen. Ich habe festgestellt, dass immer noch ein Fehlwissen vorhanden ist und Fachleute den Ausländern empfehlen, mit dem Kind in ihrer Muttersprache zu sprechen. Mit der Begründung, das Kind werde früh genug Deutsch lernen. So kommen Kinder in die Schule und können noch kein Wort Deutsch.
Zweitens führt es zu einer Entlastung der Klassenlehrer, wenn wir Migrationskinder zuerst regional in Einschulungsklassen schicken, bis sie einigermassen Deutsch gelernt haben. Das haben wir bei den Ukrainern gemacht; sie sind zuerst sechs Monate eingeschult worden, bevor sie in die Regelklassen kamen.

Ist die Deutsch-Frühförderung in Aarburg ein Erfolg?
Wir habe noch nicht alle nötigen Resultate, aber bereits in Zusammenarbeit mit der Universität Basel erhoben, wie die Eltern mitmachen. Die Rücklaufquote der Fragebögen mit 85 bis 95 Prozent bewerten wir als sehr positiv. Es zeigt sich auch eine beängstigende Entwicklung. Inzwischen haben über 50 Prozent aller Kinder in Aarburg einen Frühförderbedarf in Deutsch. Das zeigt, wie wichtig das Thema ist. An Informationsveranstaltungen wollen diese Eltern davon überzeugen, dass sie ihre Kinder in eine Spielgruppe schicken, bevor diese in den Kindergarten kommen.

Wollen Sie die Frühförderung für Kinder mit Bedarf für obligatorisch erklären?
Nein. Letztlich gibt es nur wenige Familien, die als nicht integrierbar gelten. Wir wollen Eltern mit guten Argumenten überzeugen. Ich wehre mich gegen ein Obligatorium, weil sonst die Gemeinden verantwortlich gemacht würden und sie Räume zur Verfügung stellen und Personal finanzieren müssten. Das wäre, als würde man das Kind mit dem Bade ausschütten. Aber auf Bundesebene habe ich mich für die Förderung der Sprachentwicklung stark gemacht.

Wie denn?
Mein Vorstoss als Nationalrätin fordert, dass die Sprachentwicklung in die nationale Gesundheitsförderung hineingenommen wird. Der Hintergrund: Im Kanton Aargau ist bei rund 40 Prozent die Muttersprache nicht Deutsch; Tendenz wegen der Zuwanderung steigend. Bei den ganz kleinen Kindern sind wir schon bei 60 Prozent. Gleichzeitig werden in den Elternhäusern immer mehr Tablets und Handys zur Ruhigstellung der Kleinkinder eingesetzt. Nachgewiesenermassen stört dies die Sprachentwicklung, das Phänomen wird massiv unterschätzt. So vieles wird im Rahmen der nationalen Gesundheitsförderung überwacht: die Gewichtskurven der Kinder, die Wachstumskurven. Die Sprachentwicklung wird aber noch immer vernachlässigt.

Sie haben sich schon sehr früh gegen die Einführung des Lehrplans 21 gewehrt, der eine sehr breite Ausbildung avisiert. Er ist dennoch eingeführt worden. Sollte er abgeschafft werden oder fordern Sie flankierende Massnahmen?
Der Lehrplan 21 verzeichnet über 3000 Kompetenzstufen. Die müssen neu zur überdacht gestellt werden. Wir müssen von den ideologisch formulierten Kompetenzen wegkommen, und jene Ziele festhalten, die in der Praxis angewendet werden und funktionieren. Ein zweiter Ansatzpunkt zur Korrektur ist der Fächerkanon. Dort gilt es zu differenzieren: Müssen wir Realschüler, die ein Handwerk avisieren, mit unzähligen Fremdsprachelektionen plagen? Ohnehin sollte der Fremdspracheunterricht auf seine Effizienz überprüft werden. Eine Sprache lernt man doch erst richtig während eines Sprachaufenthalts.

Sind Computer, Tablets, Handys an der Schule sinnvoll?
Ich plädiere für Zurückhaltung – vor allem auf den unteren Stufen. Mein Sohn lernt Buchstaben auf dem Tablet. Jetzt bringe ich ihn kaum dazu, sie aufs Papier zu schreiben, weil er das Tablet cooler findet. Die nordischen Länder haben die pädagogischen Probleme ausgelotet, die der Einsatz von digitalen Mitteln an den Schulen mitbringen und treten wieder auf die Bremse. Nicht an die Schule gehören die privaten Handys. Sie stören den Unterricht. Ich unterstütze Lehrer, die mit sogenannten Handyboxen arbeiten und die Mobiltelefone während des Unterrichts einziehen.

Das Lehrernetzwerk empfiehlt Frau Bircher ausdrücklich zur Wahl in den Aargauer Regierungsrat!

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