Die Lehren aus dem Glarner Privatschul-Debakel


Von Daniel Wahl
Alle Sympathien des Lehrernetzwerks Schweiz gelten dem initiativen Privatschulgründer Nils Landolt, der in Mollis (GL) das Lernhaus Sole führt. Der progressive Lehrer wollte der freien Schulwahl im Kanton Glarus zum Durchbruch verhelfen. «Schulwandel jetzt» heisst seine Initiative, seine Stiftung. Die Familien sollten Bildungsgutscheine in der Höhe der Durchschnittskosten der Volksschule (etwa 15’000 bis 18‘500 Franken pro Jahr) erhalten und so «ihre» auf das Kind zugeschnittene Schule frei wählen können.
Die Idee der freien Schulwahl hat die Unterstützung des Lehrernetzwerks Schweiz, denn Wettbewerb und Konkurrenz können der Volksschule nur guttun, wie es in unserem Positionspapier (Punkt 15) heisst. Bildungsgutscheine, die unbürokratisch eine freie Schulwahl ermöglichen, würden dazu führen, dass sich Schulen im Direktvergleich messen müssten. Eine Lehrerin hat uns dazu geschrieben: «Durch eine freie Schulwahl würden sich die meisten Probleme selbst regulieren. Die Volksschule würde sich gezwungenermassen bei den innovativen Privatschulen Ideen holen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Echte Veränderungen wären möglich und Schreibtischtäter würden dann bald verschwinden.»
Wieder abgeschmettert
Es sind Argumente, die an der Landsgemeinde im Kanton Glarus kein Gehör fanden. Hängen die Schweizer zu sehr an «ihrer» Volksschule? Jedenfalls redete sich Nils Landolt um Kopf und Kragen, bis er dazu gedrängt wurde, seine Rede abzubrechen. Dann hat die Bevölkerung mit brutaler Wucht das Anliegen abgeschmettert. «Wir wussten, dass es schwierig wird. Die Parteien und die Behörden waren geschlossen gegen uns», sagt Landolt. Aber man habe einen Samen gelegt. Für Landolt ist klar: «Die freie Schulwahl ist eine Frage der Zeit, spätestens in drei bis vier Jahren wird das Thema wieder politisch lanciert.»
«Durch eine freie Schulwahl würden sich die meisten Probleme selbst regulieren. Die Volksschule würde sich gezwungenermassen bei den innovativen Privatschulen Ideen holen, um konkurrenzfähig zu bleiben.»
Landolt ist nicht der Einzige, der mit der Idee Schiffbruch erlitten hat, eine freie Schulwahl zu ermöglichen. Im Kanton Solothurn versuchte es die Elternlobby 2010 mit einer Volksinitiative, zog diese aber zurück, nachdem der Kantonsrat das Vorhaben einstimmig abgelehnt hatte. Im Kanton Zürich kam die freie Schulwahl 2012 zur Abstimmung, sie wurde an der Urne mit über 80 Prozent Nein-Stimmen versenkt. In Baselland, Thurgau und St. Gallen scheiterten im gleichen Zeitraum ähnliche Initiativen. Vor drei Jahren lancierte die Aargauer FDP das Thema – sehr vorsichtig nur – und reichte einen Vorstoss ein, in welchem sie eine Auslegeordnung verlangte. Der damalige Bildungsdirektor Alex Hürzeler (SVP) erteilte dem Ansinnen eine Abfuhr.
Die Debatte in Glarus hat eines deutlich gemacht: Nach über zehn Jahren Diskussion fürchten die Schweizer immer noch, eine freie Schulwahl zu ermöglichen. Die gut ausgebauten Schulhäuser, die vielen Lehrer, die mit Herzblut an den Volksschulen unterrichten und Lohnsicherheit geniessen – das will man nicht destabilisieren, obschon immer häufiger sichtbar wird, dass die Volksschule überfordert ist und nicht mehr allen Kindern gerecht werden kann.
Ausweichmöglichkeiten
Kann ein Umdenken stattfinden? Der Migrationsdruck, die Schlagzeilen, dass die Volksschulen dem Einfluss der islamischen Gesellschaften nachgeben, das zunehmende Mobbingumfeld und die Ohnmacht der Schule, die Täter zu sanktionieren, die schlechte Allgemeinbildung und ungenügende Deutschkompetenzen nach elf Jahren Volksschule schreien nach Veränderungen und unbürokratischen Ausweichmöglichkeiten für die Beteiligten.
Nach dem kläglichen Scheitern der politischen Vorstösse gilt es Folgendes zu bedenken:
1. Es geht nicht alleine
Das Engagement einzelner Stiftungen und Interessengruppen für die freie Schulwahl reicht nicht. Eine ernstzunehmende Bildungswende braucht eine breite politische Allianz – mindestens eine staatstragende Partei im Lead, flankiert von den reformpädagogischen Schulen, Elternorganisationen, Wissenschaft und – warum nicht – auch den Kirchen.
2. Bedenken ernst nehmen
Der häufigste Einwand lautet: Privatschulen gefährden die Chancengleichheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diese Sorge ist legitim, denn in Ländern, in denen Bildungsgutscheine eingeführt wurden (Chile, Niederlanden, Schweden), beklagt man sich, dass sowohl Chancengleichheit wie auch die Unterschiede nach sozioökonomischem Hintergrund grösser geworden seien. Das verlangt nach einfachen, glaubwürdigen Konzepten – etwa nach klaren Regeln zur Durchmischung, finanziellen Fördermechanismen und öffentlich kontrollierten Mindeststandards. Ziel muss es sein, dass die öffentliche Schule nicht zur sozialen Restschule verkommt.
3. Probleme benennen
Es muss noch deutlicher werden, dass sich die Volksschulen mit einem überfrachteten Programm übernommen und sich mit Reformitis ins Elend gestürzt haben. Die Bevölkerung soll mitleiden, wenn unsere Kinder an den Schulen ideologisiert werden und die Schulen in den Kernkompetenzen Deutsch, und Mathematik durchfallen. Ein Viertel der Schulabgänger erhält heute während elf Volksschuljahren kein Rüstzeug mehr für die Zukunft – und das in einem der teuersten Bildungssysteme der Welt.
4. Kluge Kommunikation
Freie Schulwahl braucht einen überzeugenden Claim und keine langen Reden: Kinder brauchen Optionen, Wahlfreiheit schafft gleiche Chancen, Kinder haben Auswahl verdient.
5. Eltern in Verantwortung
Der rechtliche Boden für eine freie Schulwahl ist in den Menschenrechten gegeben: Art. 26, Abs. 3: «Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihre Kinder erhalten sollen». Diese Verantwortung ist wieder klar zu benennen und einzufordern.
Vor einer freien Schulwahl, vor Privatschulen muss sich die Volksschule nicht fürchten. Ihr gewichtigster Vorteil ist ihr Standortnähe. Wer will schon täglich sein Kind ins Nachbardorf oder in die nächstgelegene Stadt beim heutigen Verkehr chauffieren müssen? Und dennoch wird die Volksschule herausgefordert. Sie kommt dort unter Druck, wo sie die (wenigen) frustrierten Lehrer im Amt belässt und wo sie weiterhin Schulreformen lanciert, die nicht das Wohl des Kindes, sondern jenes der Schulverwaltung im Fokus haben (das hatten in der Vergangenheit die meisten Reformen).
Und ein Schlussgedanke: Wenn die Eltern die Schule frei auswählen können, wäre es nicht fair, wenn alle Schulen auch ihre Schüler wählen könnten? Es würde die vielen Eltern in die Pflicht nehmen, ihre Erziehungsverantwortung so auszuüben, dass sie ihren Nachwuchs in der Schule ihrer Wahl platzieren können.
Freie Schulwahl: Argumente
Pro
1. Wettbewerb und Innovation
Offene Schulwahl zwingt Volksschulen dazu, sich an innovativen Privatschulen zu orientieren – so entsteht echter Modernisierungsdruck und Veränderung von innen.
2. Höheres Elternengagement
Eine freie Schulwahl zwingt die Eltern dazu, sich mit den Bedürfnissen ihrer Kinder auseinanderzusetzen. Privatschulen fordern stärker die Beteiligung der Eltern ein, man parkiert seinen Nachwuchs nicht einfach in der Staatsschule.
3. Individuelle Förderung und kleine Klassen
Privatschulen bieten oft kleinere Klassen und konzentrierte Betreuung – ideal für Kinder mit spezifischen Begabungen, Förderbedarf oder besonderen pädagogischen Bedürfnissen.
4. Pädagogische Vielfalt und Elternwahlfreiheit
Eltern können eine Schule wählen, die ihrer Weltanschauung, religiösen Orientierung oder internationalen Ausbildungsschwerpunkten entspricht. Das entspannt und sorgt für eine stressfreie Ausbildung.
5. Qualitätsantrieb durch Wettbewerb
Eigenständige Finanzierung verschafft Autonomie und Innovationsanreize, fördert Effizienz und Profilschärfung. Ein Vorteil für eine heterogene Gesellschaft.
6. Entlastung der öffentlichen Schule
Überlastete Volksschulen könnten durch Privatschulplätze entlastet werden, besonders in schwierigen Fällen
7. Zweite Chance und Spezialfokus
Kinder, die im Regelschulsystem nicht zurechtkommen – etwa mit Lernschwierigkeiten, Neurodiversität oder Spitzentalenten im Sport/Kunstbereich – finden in Privatschulen individuellere Förderstrukturen.
Contra
1. Kostenintensiv und finanzpolitisch nicht tragbar
Bildungsgutscheine verursachen Mehrkosten in der Gesellschaft, die die Einsparungen in der Volksschule nicht im gleichen Ausmass zu kompensieren vermögen.
2. Gefahr der Zweiklassen-Gesellschaft
Privatschulen ziehen überwiegend wohlhabende oder bildungsnahe Familien an, was zur sozialen Segregation führen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächen kann. Um dem entgegenzuwirken, müssten erst noch Konzepte entwickelt werden.
3. Chancengleichheit und Zusammenhalt leiden
Die Volksschule gilt als integrativer Ort mit einer hohen Identifikation mit unserer Kultur. Privatschulen gefährden diesen Zusammenhalt und treiben eine pluralistische Gesellschaft ohne gemeinsame Identität voran.
4. Kontrolle und Steuerung schwächen
Wenn staatliche Verantwortung auf private Anbieter übertragen wird, reduziert sich die Einflussnahme durch Behörden und Bürger. Es ist darum der Ruf nach stärkerer
Kontrolle und damit Bürokratie zu erwarten.
5. Kein wirkliches Leistungsplus
Privatschulen sollen angeblich keinen generellen Leistungsvorteil bringen, sobald die Zusammensetzung der Klassen vom Staat sozial gesteuert und zusammengesetzt wird.
6. Hohe administrative Komplexität
Bildungsgutscheine führen zu mehr Bürokratie und Unsicherheit – etwa durch wechselnde Schülerstatus, Planungsprobleme für öffentliche Schulen und Pflicht zur Wiedereingliederung bei Abbruch.
7. Unsichere Personalstruktur und Fluktuation
Lehrkräfte an Privatschulen verdienen oft weniger, haben unsichere Verträge und wechseln häufiger – das beeinflusst Kontinuität und Qualität.