Offene E-Mail an Bundespräsident Ignazio Cassis in Sachen Menschenrechtslage in Österreich

12. Februar 2022

Sehr geehrter Herr Bundespräsident

Sie empfangen am kommenden Montag, den 14. Februar den österreichischen Bundeskanzler Karl Nehammer in Zofingen. Die Medien berichteten schon im Voraus von diesem «hohen Besuch», und die Gastgeberstadt Zofingen wollte ursprünglich die Bevölkerung einladen, beim Empfang dabei zu sein, hat sich aber aufgrund von Sicherheitsbedenken umentschieden, da viele besorgte Bürgerinnen und Bürger bekannt gegeben haben, dass sie von ihrem friedlichen Demonstrationsrecht Gebrauch machen würden. 

Auch das Lehrernetzwerk Schweiz nimmt gerne die Gelegenheit wahr, im Zusammenhang mit diesem Staatsbesuch ein paar dringliche Worte an Sie zu richten.

Wie Sie wissen, sehr geehrter Herr Bundespräsident, führte Österreich unter Kanzler Nehammer vor kurzem eine Impfpflicht für die gesamte Bevölkerung ein, die am 1. Februar in Kraft getreten ist. Ihnen ist sicher auch bekannt, dass das entsprechende Gesetz mehrere Phasen vorsieht. Dabei soll die Impfpflicht mit strengen Polizeikontrollen und drakonischen Strafen durchgesetzt werden. So kommt es unter anderem zu einem «automationsunterstützten Datenabgleich, um die Ungeimpften zu eruieren», wie der «Kurier» kürzlich schrieb.

Dieser Impfzwang ist ein massiver Eingriff in die körperliche und psychische Unversehrtheit freier Bürgerinnen und Bürger und verletzt damit die allgemeinen und universell gültigen Menschenrechte. Vom Daten- und Persönlichkeitsschutz spricht man in Zeiten von Corona schon gar nicht mehr. Doch auch dies sind zentrale Rechte, die jeder Bürgerin und jedem Bürger zustehen.

Dass ein derartiger Verstoss gegen die Grundrechte im 21. Jahrhundert mitten in Europa und in unserer unmittelbaren Nachbarschaft möglich ist, erfüllt uns mit Schrecken und grosser Besorgnis. Wir fordern Sie deshalb dringend auf, die verheerende Menschenrechtslage in Österreich mit Kanzler Nehammer zu besprechen und die Besorgnis der Schweiz darüber zum Ausdruck zu bringen. So wie dies der Praxis des Bundesrats und den Grundsätzen des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) entspricht, dem Sie vorstehen. «Menschenrechtsdiplomatie» und «Humanitäre Diplomatie» gehören zu den erklärten Schwerpunkten der schweizerischen Aussenpolitik. Sie können und dürfen nicht willkürlich und selektiv angewendet werden.

Wir erwarten vom Bundesrat, dass er sich konsequent für die Achtung der Menschenrechte einsetzt und deren eklatante Verletzungen anspricht, wo auch immer sie geschehen. Es ist leicht, mit dem Finger auf entfernte «Schurkenstaaten» zu zeigen – etwas mehr Courage erfordert es, die Einhaltung der Menschenrechte in der eigenen Umgebung einzufordern. In diesem Sinn bitten wir Sie, sehr geehrter Bundespräsident, abschliessend noch einmal mit Nachdruck, den groben Verstoss der österreichischen Regierung gegen die Grundrechte gegenüber Kanzler Nehammer in aller Deutlichkeit anzusprechen und damit das traditionelle Engagement der Schweiz für die Menschenrechte glaubwürdig fortzuführen.

Hochachtungsvoll

Lehrernetzwerk Schweiz

Antwort vom 16.2.2022

Sehr geehrter Herr Schwyzer
 
Wir danken Ihnen für Ihre Nachricht vom 12. Februar 2022.
 
Es ist richtig, dass sich Bundespräsident Cassis gestern in Zofingen mit dem österreichischen Bundeskanzler Karl Nehammer getroffen hat. Auf der Agenda des Staatsbesuchs standen verschiedene Themen, darunter die hervorragenden bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Österreich und die Europapolitik beider Länder.
 
Der Bundesrat setzt sich entschlossen für den universellen Schutz der Menschenrechte ein. Die Schweiz engagiert sich in diesem Bereich Seite an Seite mit der Europäischen Union und deren Mitgliedstaaten, darunter Österreich.
 
Zu allfälligen innenpolitischen Debatten in anderen Ländern äussert sich der Bundesrat nicht.
 
 
Freundliche Grüsse
 
Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA
Staatssekretariat
Abteilung Europa

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