Die rote Linie.

29. Oktober 2021

Laura Grazioli - Landrätin BL (Grüne)

Wann exponiere ich mich? Wann kann ich nicht mehr zuschauen, weil ich fürchte, dass es nicht besser, sondern schlimmer wird?  Wann ist meine rote Linie überschritten? Dieser Zeitpunkt ist JETZT.  Und deshalb verlasse ich die Wohlfühlzone meines politischen Daseins und sage laut und deutlich: NEIN zum Covid-Gesetz.

Wann ist Ihre rote Linie überschritten? Jetzt, wo die Zertifikatspflicht nicht aufgehoben wird, obwohl sich die Situation in den Spitälern entspannt hat? Wenn sie im Januar nicht aufgehoben wird? Wenn das Zertifikat an allen Arbeitsplätzen zwingend wird wie in Italien? Wenn es auf sämtliche andere Bereiche des alltäglichen Lebens ausgedehnt wird? Wenn aus 3G definitiv 2G wird wie in Teilen Deutschlands? Wenn aus 2G schliesslich 1G wird? Wenn das Zertifikat nur noch mit Booster-Impfung ausgestellt wird wie in Israel? Wenn die Impfempfehlung auf Kinder unter 12 ausgedehnt wird, voraussichtlich Anfang 2022? Wenn aus der Empfehlung ein indirekter Zwang und aus dem indirekten ein direkter Zwang wird? Wenn sämtliche Menschen zu jedem Zeitpunkt ihren Gesundheitszustand bzw. Impfstatus ausweisen können müssen? Wenn sich auch das x-te Versprechen, dass wir bald zur Normalität zurückkehren, in Luft aufgelöst hat? Wenn eine nicht unwesentliche Minderheit der Bevölkerung so stark abgespalten ist, dass sich Parallelstrukturen bilden? Wenn diese Minderheit immer stärker marginalisiert wird? Wenn… Wann?

Ich gehe abends schlafen in der Hoffnung, dass all das nicht eintrifft. Dass genügend Menschen dieses «neue Normal» nicht akzeptieren. Dass Politiker*innen den Mut haben, aus dieser dystopischen Abwärtsspirale auszusteigen. Ich schaue jeden Morgen optimistisch in die Zukunft und hoffe, dass ich unser politisches System und unsere gesellschaftlichen Werte nicht so unterschätzt habe, wie dies aktuell den Anschein macht. Dann lese ich Zeitung und merke, dass es nicht viel Grund für Optimismus gibt, weil das offizielle Narrativ immer enger und dogmatischer wird, die Fronten immer mehr verhärten und die menschliche Neigung, Bestätigung für das eigene Weltbild (und die getroffene Impfentscheidung) zu finden, fast keinen Diskurs mehr zulassen.

Ich bin nicht in die Politik gegangen, um eine ständige Interessensabwägung zwischen meinen Idealen und meiner Karriere zu machen. Wenn ich ersteres aufgeben muss, ist mir auch letzteres nichts wert. Das Covid-Zertifikat widerspricht all meinen Wertvorstellungen so drastisch, dass ich ernsthafte Zweifel am politischen System hege, von dem ich Teil bin. Ich bin der tiefsten Überzeugung, dass wir die aktuelle Krise lösen könnten, ohne Gesundheit und Freiheit gegeneinander auszuspielen. Und ich befürchte, dass wir gerade im Begriff sind, beides zu verlieren.

Vielleicht wache ich demnächst auf und die Zertifikatspflicht ist einfach aufgehoben. Dann breche ich vor Erleichterung darüber in Tränen aus, dass meine Kinder nicht in einer zertifizierungspflichtigen Welt aufwachsen müssen. Falls nicht, will ich mich zumindest dagegen gewehrt haben. Deshalb sage ich laut und deutlich: NEIN zum Covid-19-Gesetz.

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